„Moderne Gesellschaften haben nicht Sehnsucht nach etwas, sondern sie suchen die Sehnsucht.“ (Liessmann)
Die Idee der Sehnsucht könnte schon in der Antike liegen: In der Rede des Aristophanes auf den Gott Eros geht es um die Sehnsucht, die ein Wesen, welches in der Mitte zerteilt wurde, nach seiner fehlenden Hälfte hat. In dieser Parabel kann man die Grundidee der Sehnsucht erkennen: „Ich begehre etwas, das mir fehlt und das Notwendig ist, damit ich als Unvollständiger zu einem Vollständigen werde.“ (Liessmann)
Hieraus ergibt sich, dass Sehnsucht sich auf etwas richtet, dass ich niemals tatsächlich in Besitz nehmen kann, sondern auf etwas, dass mir hilft in einem „gesteigerten Sinn auf dieser Welt zu existieren, in einem umfassenden, ganzheitlicheren Sinn zu sein, als ich es vorher war.“ (Liessmann)
Der Begriff der Sehnsucht, wie wir ihn heute verwenden, ist aber eine Neuzeitliche Erfindung. In der Literatur taucht er ab dem Zeitalter der Moderne auf. Es handelt sich also um ein „Begleitphänomen moderner Gesellschaften“ (Liessmann). Können wir dadurch etwas schließen über moderne Gesellschaften? Über ihre Strukturen, Defizite und Dynamiken.
Im Gespräch zwischen Goehler, Liessmann, Lux und Paulmichl bei der ersten Sensus Veranstaltung sind es zwei Motive, die immer wieder aufgegriffen wurden um sich dem Thema Sehnsucht, dem Suchen von modernen Gesellschaften zu nähern:
Das Bildnis der Natur, nach dem wir Menschen uns in der hoch technologisierten Welt sehnen und die große Angst der Bedeutungslosigkeit des Selbst und der damit verbundenen Angst zu altern.
Durch die technische Zivilisation wurden wir gewissermaßen von der Natur getrennt.
So ist es verständlich, dass heute die Alpen, die Berge häufig als Sehnsuchtsmotiv vorkommen. Genauso wie jegliche unberührte Natur überhaupt. Es ist auch eine Idee, die dem Nachhaltigkeitskonzept inhärent ist, dass etwas von uns getrennt wurde und wir uns nun, gewissermaßen nach einer Widervereinigung sehnen.
Deswegen nehmen wir uns manchmal einige Tage frei und rasen mit dem Auto in die Berge, nur um dort etwas Ruhe zu finden. (Lux)
Dem Ganzen zu Grunde liegt vielleicht der hohe Grad an Individualisierung, der die Moderne Gesellschaften vermeintlich konstituiert. In dieser Individualisierten Masse sehnen wir uns dann nach etwas mit dem wir eigentlich Eins sein könnten: unserer Herkunft, der Natur.
Sehnsucht ist also immer auch eine Art Rückkehr.
Durch das Motiv des menschlichen Alterns wird die Rückkehr bildlich. Die Menschen sehnen sich nach ewiger Jugend. Aber sie tun dies in einem Alter, in dem sie sich wünschen eine frühere Lebensphase noch einmal erleben zu können. Der Mediziner der Runde (Paulmichl) sagte, dass er findet, dass Sehnsucht dort Grenzen hat. Die Sehnsucht sollte sich eher auf ein würdevolles Altern beschränken.
Nicht alles ist wünschenswerter Weise eine Sehnsucht.
Vielleicht ist es aber auch eher die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit, die den Menschen die Jugend sehnen lässt. Die Menschen wünschen sich „mit ihrem Können, ihrem Vermögen und ihrem Wollen etwas anfangen zu können, das mehr umfasst, als ihren, im Alter immer geringer werdenden Marktwert“ (Goehler).
In unserer Gesellschaft gibt es einen ganz großen Drang danach, wirklich nützlich sein zu wollen, aber auf der anderen Seite auch eine große Angst: die Existenzangst. Diese zwei Emotionen sind möglicherweise konträr, weil viele Individuen gelähmt durch Ihre Existenzangst nicht wirklich etwas bewegen können.
Diesem Spannungsverhältnis wird nämlich auch in der Wirtschaft, in den meisten Unternehmen nicht auflösend begegnet. Sehnsucht kommt dort praktisch nicht vor. Der Begriff ist zu ungreifbar, nicht quantifizierbar und nicht messbar.
Es gelingt an dieser Stelle die Werte unserer modernen Gesellschaft zu thematisieren. Nützlichkeit, Brauchbarkeit und Einsetzbarkeit sind Werte, die unser Arbeitsleben im Moment prägen. Und dazu wissen wir bereits, dass wir, egal wie sehr wir uns anpassen, durch technische Entwicklungen immer mehr abdingbar werden, am Arbeitsplatz. Wir sollten „andere Formen des Lebens und des Arbeitens entgegensetzen“. (Goehler)
Wir müssen vielleicht auch unsere Werte verändern. Die Kernwerte unserer Gesellschaft. Zwar mag man diskutieren, ob es objektiv gültige Werte gibt, aber zumeist sind Werte „subjektive Präferenzen“ (Liessmann). Und das heißt, dass wir sie verändern können.
Um noch einmal zurückzukommen, auf die Sehnsucht nach dem Gebrauchtwerden, so bietet es sich an zu diskutieren in wie fern, der Begriff der Sehnsucht, das Gefühl der Sehnsucht, eine Notwendigkeit hat, erfüllbar zu sein.
Denn schließlich wurde eingangs festgestellt, dass Sehnsucht, so wie sie aus der antiken Sage abgeleitet werden kann, nicht zu befriedigen ist.
Das ist natürlich ein sehr ungewohnter Zustand in unserer heutigen Gesellschaft. Wir sind daran gewöhnt, dass wir eigentlich keine Sehnsüchte haben, sondern dass wir uns erfüllbares Wünschen.
Aber so ist es eigentlich nicht mit der Sehnsucht: „Meine These ist, dass sich das Sehnen dann am stärksten bei uns bemerkbar macht, wenn wir uns nach Dingen, nach Situationen, nach Menschen, nach Begegnungen, nach Vereinigungen sehnen, wo wir im Prinzip wissen, dass [die Erfüllung] äußerst schwierig ist.“ (Lux)
Es geht also um eine Balance, um ein abwägen, zwischen dem was wir uns wünschen und wonach wir uns sehnen und dort dann darum, was davon erfüllbar ist, und was nicht.
Das Motiv der Natur, die wir in Einklang bringen möchten mit der technischen Zivilisation eignet sich als Beispiel. Wir sehnen uns nach dem Zurück zu unseren Wurzeln, der Natur, wir wissen, dass wir nur im Jetzt nicht sein können und können versuchen den Einklang von Natur und moderner Zivilisation wiederherzustellen. Einfach wird das nicht, aber möglich ist es.
Diese Schwierigkeit, zu wissen, dass wir nicht zurückkönnen, aber auch noch nicht genau wissen was auf uns zukommt, lässt sich einwandfrei auf den Wertewandel übertragen. Zurück zu traditionellen Werten, die vielleicht einmal funktioniert haben, können wir natürlich nicht, aber wir können neune Werte schaffen. Noch haben wir keine geeigneten Wege gefunden, wie wir „gleichzeitig mit dem Überfluss an Gütern und dem Mangel an Zeit, Fürsorge und Solidarität [umgehen können].“ (Goehler)